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Corona-Tagebuch: 19.5.2020

Nun ist morgen die von mir so geliebte Stierzeit schon wieder vorbei. Es wird wieder umtriebiger, auch weil so langsam die Kindergärten wieder öffnen. Heute hänge ich so ein wenig dazwischen. Was war, was wird sich wann ändern und was nehme ich mit aus dieser intensiven Zeit zuhause? Seit ein paar Tagen arbeite ich wieder in der Praxis und das ist gut so und immer wieder berührend und schön. Doch mein innerer Antreiber ist auch schon wieder aufgetaucht. Im Moment begebe ich mich nochmals in meinen eigenen Prozess mit ihm. Das Thema Leistung, Work-Life-Balance will auch in mir unbedingt noch erlöst werden. Das weiß ich seit 16 Jahren und doch gibt es da noch irgendetwas in mir, das antreibt und mit nichts zufrieden ist...Das möchte ich, wie sicherlich viele in unserer Leistungsgesellschaft nun wirklich im Erdzeitalter zurücklassen. Ich schreibe hier, wenn sich etwas Bahnbrechendes tut bei mir:-)

Die Natur liefert dieses Jahr schon irgendwie eine Wegrichtung, in Form von Rotklee, der uns beiden unabhängig voneinander als besonders üppig in diesem Jahr ins Auge gestochen ist.


Vom Rotklee kann man nun die Köpfe ohne die grünen Blättchen essen und sich mit Phytohormonen versorgen.Obwohl ihn natürlich auch die Männer essen können, wird er hauptsächlich für Frauen eingesetzt. Die weibliche Energie - das ist die Antwort auf meine Frage. Lange genug haben wir männlich, zielgerichtet, leistungsorientiert unser Leben gemeistert, doch dabei die weibliche Energie, das Fließen, Fühlen, die Hingabe als niedriger bewertet, als nicht messbar oder effektiv...Der Rotklee sagt mir: Natürlich ist dein Tag kurz, aber du hast viel getan. Yoga, Meditation, Sein, Spazierengehen ist nicht nichts, sondern es ist nur für deinen inneren Antreiber nichts!!! Viele Menschen bewegt die Frage, wofür unser bisheriges Schuften denn wirklich gut war? Da fällt mir eine Geschichte ein, die schon einige Jahrzehnete alt ist. Sie ist von Heinrich Böll und stellt die Frage: "wem dient der Kapitalismus?" so habe ich sie zumindest betitelt.

Der kluge Fischer 
Heinrich Böll (1917-1985)

In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen,schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind und sicher ist, ein drittes Mal: klick.

Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt. Aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrigeTourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum meßbare, nie nachweisbare zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist - der Landessprache mächtig - durch ein Gespräch zu überbrücken versucht.

"Sie werden heute einen guten Fang machen."Kopfschütteln des Fischers. "Aber man hat mir gesagt, daß das Wetter günstig ist." Kopfnicken des Fischers."Sie werden also nicht ausfahren?" Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiß liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpaßte Gelegenheit. "Oh? Sie fühlen sich nicht wohl?"

Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über."Ich fühle mich großartig", sagt er. "Ich habe mich nie besser gefühlt." Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. "Ich fühle mich phantastisch."Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: "Aber warum fahren Sie dann nicht aus?" Die Antwort kommt prompt und knapp."Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin." "War der Fang gut?" "Er war so gut, daß ich nicht noch einmal ausfahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen.
"Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen auf die Schulter. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis. "Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug!" sagte er, um des Fremden Seele zu erleichtern. "Rauchen Sie eine von meinen?""Ja, danke."Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen. "Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen", sagter, "aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar einviertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen.Stellen Sie sich das mal vor!
"Der Fischer nickt."Sie würden", fährt der Tourist fort, "nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren - wissen Sie, was geschehen würde?"
Der Fischer schüttelt den Kopf."Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen - eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden...", die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, "Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben, sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren - und dann..." - wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache.

Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die  ungefangenen Fische munter springen. "Und dann", sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken wie einem Kind, das sich verschluckt hat. "Was dann?" fragt er leise."Dann", sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, "dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken." "Aber das tu ich ja schon jetzt", sagt der Fischer, "ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört."

Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich vondannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, aber es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

Heinrich Böll, 1963Böll schrieb die Anekdote für eine Sendung des Norddeutschen Rundfunks zum „Tag der Arbeit“am 1. Mai 1963Quelle: Böll, Heinrich, Werke: Band Romane und Erzählungen 4. 1961-1970. Köln: Kiepenheuer &Witsch 1994, S. 267-269

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